Ils ont tout vu (German)

2002

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Was geschah am 22. Oktober 1940? Ein Menschenalter verging seither. Die Menschenwelt hat das Hassen, Ausgrenzen, Vertreiben und Morden noch nicht verlernt. Und ein menschliches Gedenken an das offene Ausbrechen der antisemitischen Barbarei in Baden, im Elsaß und in Lothringen erfüllt den, der sich erinnernd einfühlt, auch nach sechs Jahrzehnten mit Scham und Schmerz. Die Synagoge in Sulzburg, das 1822 im Selbstbewußtsein konfessioneller Gleichberechtigung errichtete Gotteshaus: "Grundstücksentjudet", beschlagnahmt, geschändet. Die letzten Sulzburger Juden, die im Dezember 1939 in verzweifelter Gottergebenheit beschlossen hatten, ihre Gemeinde nicht aufzulösen, weil sie als deutsche Bürger in ihrer Heimat bleiben wollten. Sie werden in der trüben Morgenfrühe auf dem Marktplatz zusammengetrieben, 27 meist alte und gebrechliche Menschen, auf Lastwagen verfrachtet, weggekarrt. Die Zeugen und Nachbarn schweigen. Das Rathaus hakt die Menschen mit den Familiennamen Abraham, Bloch, Kahn und Weil ab, nun sind die Christenmenschen wieder unter sich, "und Sulzburg somit Judenfrei." Auch frei von den seit 400 Jahren gelebten Leben der Sulzburger Juden, die unter ihren Steinen auf der Spöhnlerischen Matte am "guten Ort" der Väter und Mütter einem Gerichtstag und einem Messias entgegenharren?

Was am 22. Oktober 1940 und danach geschehen war - was heißt es, das zu wissen? Was litten, hofften, fürchteten die 6.504 aus ihrer badischen, elsässischen, lothringischen Lebenswelt ausgestoßenen Entrechteten in dem ratternden Leidenspferch der 9 Deportationszüge? Was bedeutet es, feindselig verstoßen zu werden ins fremde Unbekannte (Gerüchte nennen Madagaskar oder Portugal, Befürchtungen ahnen den Mord) - dann ausgehungert anzukommen in ratloser, entwürdigender Unfreiheit, wie Vieh hineingetrieben zu werden in die frostige, feindselige Wüstenei der 300 fensterlosen Baracken auf dem Champ de Gurs am windigen Fuß der Pyrenäen. Was bedeutete es, dort außerhalb der Bedürfnisgrenzen menschlicher Zivilisation eingesperrt und ausgezehrt zu vegetieren, zu erlöschen, oder als Überlebende im August 1942 in die von französischen Beihelfern organisierten Mordzüge in Richtung der Vernichtungslager gepresst zu werden - was heißt es zu wissen, was dort und danach geschah? War dies "die totale Ausgrenzung" der Juden, die zuvor ein Kulturträger wie Ernst Jünger im Sog rassistischer Geistestrübung öffentlich gefordert hatte, die "totale Ausgrenzung", die dann durch den faschistischen Wahnsinn einer Kulturnation mörderisch exekutiert wurde?

Der offene Ausbruch der Barbarei, der mit der Deportation nach Gurs beginnt, wurde von langer Hand vorbereitet. Die französische Administration der Vichy-Regierung sah sich vor vollendete Tatsachen gestellt und wurde im Glauben belassen, die Deportierten seien abgeschobene Franzosen. Ein späterer französischer Protest scheint wenigstens bewirkt zu haben, daß die bereits geplante Deportation auch der hessischen Juden nach Gurs unterblieb. Die Kälte und Rücksichtslosigkeit, mit der deutsche Beamtengründlichkeit die Juden in Baden, dem Elsaß und in Lothringen überrumpelt, zeigt brutale Effizienz. Die minutiösen Anweisungen an die exekutierenden Beamten gipfeln in dem Satz: "Es ist unbedingt erforderlich, daß die Juden bei der Festnahme korrekt behandelt werden. Ausschreitungen sind auf jeden Fall zu vermeiden". Stromsicherungen werden in den Wohnungen der Opfer ausgedreht, Gas und Wasser abgestellt, der Raub von Hab und Gut als "treuhänderische Verwaltung" kaschiert. Der Sicherheitspolizeichef Heydrich protokolliert denn auch: "Die Abschiebung ist reibungslos und ohne Zwischenfälle abgewickelt worden. Der Vorgang der Aktion selbst wurde von der Bevölkerung kaum wahrgenommen." Kaum wahrgenommen? Bald darauf haben es jedenfalls viele deutsche Hände nicht versäumt, bei der scheinlegalen Versteigerung der geraubten jüdischen Vermögen durch die deutschen Finanzämter ihr schmutziges Schnäppchen zu machen. Das Tabu über dieser "Nachlaßverwaltung" durch die Reichsfinanzbehörden dauerte bis März 1999 - solange hielten deutsche Steuerbeamte die Schandlisten dieser Versteigerungen aus Gründen des Steuergeheimnisses unter Verschluß. "Korrekt" und effizient hatte man in Deutschland 1940 den Weg in die Barbarei betreten. "Korrekt" und vergesslich schrieb man in Deutschland bis zum Ende des Jahrtausends die scheinlegalen Kontinuitäten der Barbarei fort. Hatte nicht schon zweihundert Jahre früher in aufklärerischem Zorn ein Johann Gottfried Herder die Menschenunwürdigkeit der Rechtsstellung seiner jüdischen Zeitgenossen und die beschämende Unkultur rassistischer Gesetze angeprangert: "Alle Gesetze, die den Juden ärger als das Vieh achten, ihm nicht über den Weg trauen, und ihn damit vor den Augen aller stündlich ehrlos schelten, sie zeigen die fortwährende Barbarei des Staates, der aus barbarischen Zeiten solche Gesetze duldet."

Neben dem Stachel der Erinnerung an das, was sich mit dem Namen Gurs verbindet, setzt uns im Jahr 2000 auch das bittere Erleben inhumaner Kontinuitäten und neuer rassistischer Hassausbrüche in Bewegung. Wir schulden den Opfern rassistischer Barbarei aufklärerische Wachheit gegenüber dem finsteren Rumoren an den Rändern, aber auch gegen die politische und wirtschaftliche Inhumanitätsgeneigtheit in der korrekten und effizienten Mitte unserer Gesellschaft. Daneben schuldet der "Freundeskreis Ehemalige Synagoge Sulzburg" den am 22. Oktober 1940 aus ihrer Sulzburger Heimat in den Tod geschickten Juden ein Erinnerungszeichen, dessen Sprache Gedächtnis und Ermahnung in sich schließt. Wie in früheren Jahren setzten wir dabei auf die Dimensionen und das Vermögen der Kunst und entwickelten, beeindruckt von der Thematik, der Formensprache und der Ausdruckskraft des französischen Künstlers Christian Lapie, mit diesem das Konzept einer skulpturalen Installation mit dem Titel "Das Sulzburger Feld".

Der 1955 bei Reims geborene und in Val de Vesle arbeitende Christian Lapie reagiert mit großer Betroffenheit und Sensibilität auf die umwälzenden, umschichtenden, Natur und Menschenwelt umformenden Kräfte der Geschichte. Seine Heimat, die Champagne, offenbarte ihm ihr vom 1.Weltkrieg zerschlagenes Gesicht. Archetypische Gestalten, wie verkohlte Baumstümpfe, oder aus Haustrümmern aufragende Kamine, die als vom Zerstörungswerk der grauenhaften Materialschlacht "geformte" Zeugen des Geschehens das Inferno aufrecht und anklagend überstanden - solche gestalthaften Relikte der Destruktion lehrten ihn, in ihnen lapidare und vieldeutig gleichnishafte Vorbilder für eigene Figurationen zu erkennen. Prägende Erfahrungen am brasilianischen Rio Madeira mit der Ausbeutung und Verschleuderung der brasilianischen Wälder, mit dem massenhaften Fällen, Flößen, Verfrachten und Verbrauchen der zum Material reduzierten Stämme einst lebendig vielgliedriger Baumgestalten vermittelten ihm ein zeitgenössisch hartes Bild der uralten, mythisch-naturreligiösen Beziehung zwischen Baum- und Menschengestalt. Seither ist Stammholz für ihn ein sprechendes Schicksalsmaterial, seither gruppiert er seine archaisch aufragenden, mit der Kettensäge zu roher, archetypischer Menschenähnlichkeit gearbeiteten "Bildsäulen" zu monumentalen Versammlungen, Reihungen, Prozessionen. Als schwarze, brandverkohlte oder geteerte Besucher aus den Welten einer andern Zeitrechnung kreuzen sie unsere Wege mit der Würde und Autorität von Menhiren oder Landmarken und stellen unsere Rastlosigkeit und unsere Lebensarrangements durch ihre irritierende Anwesenheit in Frage.

Christian Lapie ist ein gründlicher Rechercheur. In Sulzburg erforschte er auf langen Wanderungen durch die Topographie, die Geschichte und die Atmosphäre des Ortes den Charakter und den Standort für seine Figuren. Für diese wählte er das Sturmholz aus im Sulzburger Wald, 70- über 100-jährige Douglasienstämme, bei deren Bearbeitung auf dem Holzplatz am Bettlerpfad er betroffen und nachdenklich sagte: "Als ich da arbeitete, erschrak ich, denn ich bemerkte: Die haben alles gesehen". Für die Aufrichtung dieser hölzernen Zeitzeugen wählte er den spirituellen Mittelpunkt des vernichteten Gemeindelebens, die als Gedenkstätte restaurierte Synagoge, die auch ein wichtiges Zentrum des untergegangenen alemannischen Landjudentums gewesen war. Und er entschied sich für das "Sulzburger Feld", eine zum Ort hin geneigte Streuobstwiese westlich der Stadt. In der klassizistischen Helligkeit des Innenraums der Synagoge spricht nun unter dem goldbestirnten, blauen Himmelsgewölbe die schwarze Last und Wucht der geschichteten und aufragenden Holzkörper eine massive und beklemmende Sprache. Und unterm freien Himmel des "Sulzburger Felds" erheben sich hochaufgerichtet oder gerade der begrabenden Erde entsteigend die Reihen der schwarzen Figuren und Torsi, richten ihren Blick nach Osten und auf den Ort, hinter dem der "Gute Ort" des altehrwürdigen Friedhofs der Juden liegt. Die statuarische Anwesenheit dieser unbewegten, aber von Licht und Wetter umspielten Gestalten, ihr fremdes, zeitentrücktes Dasein im Wechsel der Jahreszeiten, neben der geschäftigen Lebenswelt auf den Straßen, in der Feldflur und in den benachbarten Betrieben, macht das "Sulzburger Feld" zu einem starken, visionären Ort. Er ist Gesichtsfeld der Figuren und Betrachter ("champ de vision"), ist Kraftfeld, Störfeld, Arbeitsfeld. Wir müssen es bestellen mit den Kräften der Fantasie und des Geistes, des Schmerzes über die Verletzlichkeit der Menschenwürde, und des Gedächtnisses, das der Schwärze der menschlichen Schuld und Hinfälligkeit die unermüdliche Arbeit heller Hoffnung entgegensetzt.

Der "Freundeskreis Ehemalige Synagoge Sulzburg e.V." dankt Christian Lapie herzlich für seine unermüdliche Präsenz, Inspiration und Energie, nicht zuletzt auch für sein freundschaftliches Angebot, die ideellen Ziele des Vereins durch eine eigens für Sulzburg geschaffene grafische Arbeit zu unterstützen. Großen Dank schulden wir der Stadt Sulzburg, dem Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald, der Anna-und-Hugo-Bloch-Stiftung, der Landeszentrale für politische Bildung des Landes Baden-Württemberg sowie der Galerie Guillaume Daeppen in Basel für ihre Förderung und Unterstützung des nicht alltäglichen Projekts "Sulzburger Feld". Einen dankbaren und anerkennenden Händedruck den Arbeitern des Städtischen Bauhofs und des Forstbetriebs für ihr kräftiges Handanlegen und die tüchtige und professionelle Mitarbeit. Dem Institut français Freiburg mit seinem Direktor Michel Mercier sowie seiner Frau Helgard danken wir für alle Übersetzungen.

Wolfgang Heindenreich

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